Untersuchung
Patienten bescheinigen dem Gesundheitswesen eine hohe Qualität, halten aber grundlegende Reformen für nötig
> Patientenurteil: Unzufrieden mit dem Gesundheitswesen

Patienten bescheinigen dem
deutschen Gesundheitssystem zwar eine hohe Qualität. Dennoch sind sie
weitaus unzufriedener als die Patienten in anderen Ländern. Ein
Sechs-Länder-Vergleich zeigt den Reformbedarf auf. So stehen kurzen
Wartezeiten und niedrigen Zugangsbarrieren erhebliche Defizite bei der
Patienteninformation gegenüber.



Deutschland hat im internationalen
Vergleich die kürzesten Wartezeiten, Laborbefunde sind verlässlicher
und liegen schneller vor, Patienten haben mehr Möglichkeiten bei der
Arztwahl, bekommen im Krankenhaus seltener eine Infektion und wer
chronisch krank ist, wird häufiger und regelmäßiger vorbeugend
untersucht.

Dennoch sind Deutsche mit ihrem Gesundheitswesen
weitaus unzufriedener als Patienten in anderen Ländern. Zu diesem
Ergebnis kommt eine aktuelle Umfrage unter schwerer erkrankten
Erwachsenen in Kanada, Australien, Neuseeland, Großbritannien, den USA
und Deutschland. Schwachstellen zeigt das deutsche Versorgungssystem
laut Studie bei der Patienteninformation und bei der Koordination
zwischen Leistungsebenen.

An der vom Commonwealth Fund (CWF)
bereits seit 1999 durchgeführten Erhebung zur Qualität der Versorgung
hat sich 2005 erstmals auch die Bundesrepublik beteiligt, wo das
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
(IQWiG) die Studie leitete. In diesem Jahr standen diejenigen im
Mittelpunkt, die in besonderer Weise auf medizinische Versorgung
angewiesen sind: Befragt wurde jeweils eine repräsentative
Zufallsstichprobe von Erwachsenen, die einen schlechten
Gesundheitszustand haben, an einer chronischen Erkrankung leiden oder
sich in den vergangenen beiden Jahren einer schweren Operation hatten
unterziehen müssen.

In der Bundesrepublik beantworteten 1.474
Männer und Frauen am Telefon durchschnittlich 55 Fragen. Ungewöhnlich
dabei war, dass alle, die angesprochen wurden, bereitwillig Auskunft
gaben. "Das Design der Studie erlaubt einen echten Benchmark-Vergleich
zwischen den teilnehmenden Ländern", erläutert IQWiG-Chef Peter
Sawicki. "So war es möglich, konkrete und behebbare Versorgungsdefizite
aufzudecken - und das national wie international. Deutschland schneidet
in der Gesamtbilanz sehr gut ab, an einigen Stellen gibt es aber auch
hierzulande Raum für Verbesserungen."

Dass deutsche Patienten
ihrem Gesundheitswesen in den meisten Einzelaspekten eine hohe Qualität
bescheinigen, andererseits grundlegende Reformen für nötig halten, sei
paradox: "Wir fahren Mercedes, glauben aber einen reparaturbedürftigen
Golf zu steuern", kommentierte Sawicki. Auch während der
Gesundheitsministerkonferenz in Washington stattfand, rätselten die
internationalen Teilnehmer über diese so nur in der Bundesrepublik zu
beobachtende Diskrepanz. Fazit der Diskussion: Deutsche Patienten
scheinen mit ihrem Gesundheitssystem wesentlich kritischer umzugehen
als Patienten in anderen Länder und vor allem die Nachteile
wahrzunehmen.

Niedrige Zugangsbarrieren und kurze Wartezeiten

Ein
dickes Plus verzeichnet die Bundesrepublik beim Zugang zu medizinischen
Leistungen: Ambulante und stationäre Behandlungen sind gleichermaßen
schnell und einfach zu bekommen - und das unabhängig von Einkommen,
Versichertenstatus oder Wohnort. Nur ein Viertel der deutschen
Befragten berichtete, dass es schwierig war, zu ungewöhnlichen Zeiten,
wie in der Nacht oder in der Ferienzeit einen Arzt zu erreichen. In
Neuseeland waren es 28%, in Großbritannien 38%, in Kanada 53%, in
Australien 59% und in USA sogar 61%.

Deutschland hat mit
Abstand die kürzesten Wartezeiten, lediglich im ambulanten Sektor hat
Neuseeland noch bessere Werte. 22% der deutschen Patienten mussten
weniger als eine Woche auf eine geplante OP warten, in den anderen
Ländern waren es dagegen nur zwischen 2% (Neuseeland) und 13%
(Australien).

Deutsche Patienten haben zudem bessere
Wahlmöglichkeiten, wenn es darum geht, einen Operateur zu bekommen: Wie
in den USA gaben 23% der Befragten an, keine Wahl gehabt zu haben. In
Australien war das bei 34%, in Kanada bei 36% und in Großbritannien bei
44% der Patienten der Fall. Westdeutsche waren hier Ostdeutschen
gegenüber im Vorteil (26% zu 15%).

Zeitnahe Befunde und niedrige Rate von Infektionen im Krankenhaus

Falsche
oder verspätete pathologische Befunde sind in Kliniken hierzulande
seltener als anderswo: Nur 9% der deutschen Befragten hatte diese
Erfahrung machen müssen, in den Vergleichsländern waren es hingegen
zwischen 14% und 23 %. Wechseln Patienten den Arzt oder werden sie in
Kliniken eingewiesen, liegen Laborberichte oder Diagnosen in der Regel
vor: Laut Umfrage fehlten dies Informationen bei 11% der deutschen
Patienten, in den Vergleichsländern trat dieser Fall mit 12% bis 23%
zum Teil deutlich häufiger auf.

Mängel in der ärztlichen oder
pflegerischen Organisation sind häufig die Ursache, wenn sich Patienten
bei Klinikkaufenthalten infizieren. In Deutschland ist dieses Risiko
aber relativ gering: 3% der Interviewpartner berichten davon, in den
angelsächsischen Staaten sind dagegen 7% bis 10% der Patienten
betroffen.

Regelmäßige Checks für chronisch Kranke

Chronisch
kranke Menschen werden in Deutschland besser mit präventiven
Standardmaßnahmen versorgt: Kontroll-Untersuchungen und -Messungen, wie
etwa die Bestimmung des Blutdruck oder der Cholesterinwerte werden
häufiger und regelmäßiger vorgenommen als in den anderen Ländern.
Allerdings erhalten deutsche Patienten seltener (37%) einen Plan, wie
sie ihre Erkrankung zu Hause in eigener Regie behandeln sollen (übrige:
45% bis 65%).

Patienten werden nicht ausreichend informiert

Was
Behandlungsfehler betrifft, liegt Deutschland im Mittelfeld: 19% der
Patienten berichten darüber, was weniger ist als in den USA (22%) und
etwa dem Anteil in den übrigen Ländern entspricht (17% bis 19%).
Allerdings wurden hierzulande nur gerade einmal 15% der Betroffenen vom
medizinischen Personal darüber informiert. In den anderen Ländern
herrscht offenbar eine andere "Kultur" im Umgang mit Fehlern, wo man in
23% bis 35% der Fälle offen über sie sprach.

Die Kommunikation
zwischen Arzt und Patient ist eindeutig eine der Schwachstellen im
deutschen Gesundheitswesen - mit zum Teil nicht unerheblichen Folgen
für die Patientensicherheit. 61% der Befragten gibt an, dass ihr Arzt
sie nicht immer über Behandlungsalternativen aufklärt und nach ihrer
Meinung befragt; in 46% der Fälle werden Behandlungsziele selten oder
nie erklärt und 42% vermissen Hinweise auf mögliche Warnsymptome. In
den meisten anderen Ländern ist die Situation laut Umfragedaten
allerdings ähnlich, einzig die neuseeländischen Ärzte scheinen etwas
mitteilsamer zu sein. Dass sie "selten" oder "nie" über Nebenwirkungen
von Medikamenten aufgeklärt werden, geben aber 38% der deutschen
Patienten und damit mehr als in allen anderen Ländern (19% bis 32%) an.
Zumindest in Deutschland werden derlei Informationsdefizite häufiger
von Frauen als von Männern angemahnt.

Entlassungen aus Kliniken werden schlecht geplant

Die
Mängel bei der Patienteninformation sind beachtlich, aber offenbar kein
typisch deutsches Phänomen. Eine negative Sonderstellung im
Sechs-Länder-Vergleich nimmt Deutschland allerdings im Bereich der
Koordination von Leistungserbringern und -sektoren ein. Herausragend
schlecht funktioniert vor allem das Entlassungsmanagement von Kliniken:
Nur 39% deutscher Patienten wurden vorher über Warnsymptome aufgeklärt,
erhielten einen Termin für eine Anschlussbehandlung und bekamen einen
Ansprechpartner benannt. In den anderen Ländern waren es zwischen 58%
und 65%. Zu höheren Wiedereinweisungsraten führte dies allerdings
nicht. Im Gegenteil: Mit 10% liegt die deutsche Quote deutlich unter
der der übrigen Länder (14% bis 20%).

Ausdruck von
Koordinationsproblemen sind auch die sich in Deutschland häufenden
Doppeluntersuchungen: Ein Fünftel der Patienten gab an, dass Ärzte
überflüssige diagnostische Test angeordnet hatten, die bereits anderswo
durchgeführt worden waren. Nur in den USA war dies annähernd so häufig
der Fall (18%), in allen anderen Ländern lag die Quote mit 6% bis 11%
erheblich tiefer.

Privat Versicherte werden nicht unbedingt besser behandelt

Deutsche
privat Versicherte berichten öfter von Mehrfachuntersuchung als
Mitglieder der GKV (33% zu 18%), was auf eine Überversorgung hinweisen
kann. Gestützt wird diese Vermutung auch durch die bei privat
Versicherten höhere Frequenz von geplanten Operationen: In dieser
Gruppe waren 21% operiert worden, bei den gesetzlich Versicherten nur
15%. "Mehr" heißt nicht immer "besser", auch wenn sich Privatpatienten
in der Umfrage subjektiv zufriedener über ihre Versorgung zeigen als
GKV-Mitglieder. Denn Untersuchungen und Eingriffe können mit Risiken
behaftet sein und wer sich überflüssigen Maßnahmen unterziehen muss,
wird auch überflüssigen Risiken ausgesetzt. Allerdings bekommen privat
versicherte Patienten noch schneller Termine für Facharzt- und
Klinikbehandlungen als gesetzlich versicherte.

Paradox von hohem Versorgungsniveau und geringer Zufriedenheit

Zu
den auffälligsten Befunden gehört zweifellos die Kluft zwischen
subjektiv guter Bewertung in den meisten Einzelaspekten einerseits und
dem reklamierten hohen Reformbedarf andererseits: Nur 16% der deutschen
Patienten glauben, dass "alles in allem das System nicht schlecht
funktioniert, und nur einige Kleinigkeiten zu ändern (sind), dann würde
es noch besser funktionieren." Dies sind deutlich weniger als in allen
übrigen Staaten, nämlich 30% in Großbritannien, 27% in Neuseeland, je
23% in den USA und in Australien und 21% in Kanada.

Dagegen
ist ein knappes Drittel (31%) der deutschen Interviewpartner der
Ansicht, das Gesundheitssystem müsse von Grund auf verändert werden.
Ähnlich kritisch sind nur Amerikaner (30%) und Australier (26%).
Patienten in Neuseeland (20%), Großbritannien (14%) und Kanada (17%)
beurteilen ihr Gesundheitssystem weitaus positiver. Grundlegenden
Reformbedarf sehen in Deutschland häufiger Patienten aus den neuen
Bundesländern, gesetzlich Krankenversicherte, Patienten mit niedriger
Schulbildung und solche, die mehr als 1000 $ jährlich aus eigener
Tasche zuzahlen müssen und bei denen Behandlungsfehler aufgetreten
sind.

Aber nicht nur bei der "Systemfrage" sind deutsche
Patienten kritischer. Um eine Bewertung ihrer individuellen Versorgung
durch Hausärzte, Fachärzte und im Krankenhaus gebeten, vergeben sie
seltener das Prädikat "exzellent" oder "sehr gut" als Patienten in den
Vergleichsländern.



WANC 11.11.05/idw
 
 
 
 
 
 
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