Prof. Dr. Walter Haefeli: "Wahrscheinlich nehmen mehr als 20 Prozent der Klinikpatienten zusätzlich Medikamente unerkannt ein."
> Versteckte Pillen: Ärzte wissen oft nicht, was ihre Patienten alles einnehmen

Jeder fünfte Klinikpatient nimmt Arzneimittel ohne Wissen der Ärzte ein. Die unbekannten Pillen können gefährliche Wechselwirkungen mit den verschriebenen Medikamenten hervorrufen oder eine gewünschte Wirkung verhindern.


Rund 20 Prozent der Klinikpatienten nehmen Substanzen ein, deren Einnahme in der Krankenakte nicht verzeichnet ist. Auf der Liste stehen vor allem Schmerz- und Beruhigungsmittel sowie Medikamente gegen Sodbrennen. Dies hat eine Studie der Abteilung Innere Medizin VI, Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie, der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg aufgedeckt. Eine zweite Heidelberger Studie, zeigt: Etwa 10 Prozent der Klinikpatienten nehmen zudem das pflanzliche Antidepressivum Johanniskraut ein, ohne dass es den Ärzten bekannt ist. Dadurch kann es zu gefährlichen Wechselwirkungen mit verordneten Medikamenten kommen.


Die unerkannte Einnahme von Medikamenten in der Klinik ist bereits aus früheren Studien bekannt. Bislang wurden jedoch nur nach wenigen Substanzen bei spezifischen Patientengruppen gefahndet. "Mit sehr feinen Messmethoden haben wir in dieser Studie erstmals ein sehr breites Spektrum von insgesamt 996 Medikamenten im Urin nachweisen können", erklärt Professor Dr. Walter Haefeli. Zudem gehörten die insgesamt 44 Männer und Frauen mit einem durchschnittlichen Alter von rund 69 Jahren nicht einer bestimmten Patientengruppe an, sondern litten an unterschiedlichen internistischen Erkrankungen.

Die Heidelberger Wissenschaftler sehen zwei mögliche Ursachen für das Informationsdefizit: Entweder wurde die Krankengeschichte vom Arzt nicht vollständig erhoben oder die Patienten behandelten sich selbst. Auf jeden Fall birgt die unbekannte Medikamenteneinnahme Risiken: Mögliche Wechselwirkungen mit verordneten Medikamenten können nicht berücksichtigt werden. Haefeli fordert deshalb die Patienten auf, ihre Ärzte stets umfassend über alle Arzneimittel zu informieren. Und Ärzte in Klinik und Praxis sollten die Erinnerungsfähigkeit der Patienten unterstützten und explizit nach sämtlichen Arzneimitteln fragen.

"Wahrscheinlich nehmen mehr als 20 Prozent der Klinikpatienten zusätzlich Medikamente unerkannt ein", schätzt Haefeli. Denn in dem Screening der Studie fehlte unter anderem ein weit verbreitetes, pflanzliches Arzneimittel gegen Depression, das nicht verschreibungspflichtig ist, das Johanniskraut. In einer weiteren Studie entdeckten die Heidelberger Wissenschaftler, dass etwas 7 Prozent der Patienten im Krankenhaus Johanniskraut-Präparate einnehmen, ohne dass es den behandelnden Klinikärzten bekannt ist.


Besonders beim Johanniskraut kann das schwere Folgen haben: Es beschleunigt den Abbau zahlreicher Arzneimittel, bei denen die präzise Dosierung kritisch ist (z.B. Cyclosporin und Tacrolimus zur Verhinderung von Abstoßungsreaktionen von Transplantaten, Kontrazeptiva zur Schwangerschaftsverhütung oder viele Arzneimittel gegen das HI-Virus). Die unbemerkte Einnahme kann deshalb die Sicherheit der Therapie gefährden. "Die Präparate stimulieren unter anderem gewisse P 450 Enzyme in Leber und Darm, die den Abbau von vielen Arzneimitteln beschleunigen", erklärt Haefeli.

Die Heidelberger Wissenschaftler untersuchten insgesamt 150 Patienten, die wegen unterschiedlicher Erkrankungen für einige Tage stationär aufgenommen wurden. Die Ärzte befragten zur aktuellen Behandlung, eine Pharmazeutin sprach die Patienten zusätzlich gezielt und ohne Zeitdruck auf die Einnahme pflanzlichen Produkte an. Bei 12 der 150 Patienten (8 Prozent) waren Inhaltsstoffe von Johanniskraut im Blut nachweisbar, aber nur bei einem Patienten war die Einnahme den behandelnden Ärzten bekannt. Mit der gezielten Befragung durch die Pharmazeutin wurden zwei weitere Patienten entdeckt, während neun Patienten (6 Prozent) ohne die aufwändige Nachweistechnik unentdeckt geblieben wären.


"Warum die Befragung so lückenhaft ausfiel, ist uns nicht bekannt," sagt Haefeli. Möglich erscheint ihm, dass die Patienten die Wichtigkeit dieser Information und den erheblichen Einfluss von Johanniskraut auf die übrige Arzneimitteltherapie unterschätzen. Oder von ihren Ärzten nicht ausreichend aufgeklärt werden. Viele Menschen gehen davon aus, dass pflanzliche Produkte keine Sicherheitsrisiken beinhalten.

WANC 19.10.04

 
 
 
 
 
 
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