> Psychische Erkrankungen: Nur 26% angemessen behandelt

Psychische
Störungen und Erkrankungen kommen in Europa häufig vor. Eine Studie
ermittelte, dass 27% der EU-Bürger pro Jahr daran erkranken. Doch nur
ein etwa ein Viertel der Betroffenen wird auch angemessen behandelt.


Im
Laufe eines jeden Jahres erleiden 27% der EU-Bevölkerung oder 83
Millionen Menschen mindestens eine psychische Störung wie z.B. eine
Depression, bipolare Störung, Schizophrenie, Alkohol- oder
Drogenabhängigkeit, Sozialphobie, Panikstörung, Generalisierte Angst, Zwangsstörungen, somatoforme Störungen oder Demenz. Das Lebenszeitrisiko, an einer psychischen Störung zu erkranken liegt allerdings mit über 50% der Bevölkerung wesentlich höher.



Ausmaß und
Folgen sind dabei höchst variabel: Einige erkranken nur episodisch
kurzzeitig über Wochen und Monate, andere längerfristiger. Ca. 40% sind
chronisch, dass heißt über Jahre oder gar von der Adoleszenz bis an ihr
Lebensende, betroffen.



Es gibt nur
wenige indirekte Hinweise für einen Anstieg der Häufigkeit von
psychischen Störungen in der EU im letzten Jahrzehnt; Ausnahme sind die
ansteigenden Raten depressiver- und Suchterkrankungen. Ebenso gibt es
keine Befunde für bedeutsame Unterschiede zwischen EU-Ländern oder
-Regionen hinsichtlich der Auftretenswahrscheinlichkeit von psychischen
Störungen. Die Arbeitsgruppe weist jedoch darauf hin, dass zu diesen
Punkten weitere Forschungen erforderlich sind.



Bei jedem
zweiten Fall einer psychischen Störung kommen weitere psychische
Erkrankungen hinzu. Eine „reine Depression“ oder eine „reine
Panikstörung“ tritt verhältnismäßig selten auf. Die häufigsten Muster
sind früh auftretende Angststörungen, die dann im weiteren Verlauf von
somatoformen-, Sucht- und depressiven Erkrankungen gefolgt werden.



Die Mehrheit der psychischen Störungen stellt sich im entscheidendsten Zeitabschnitt für eine
erfolgreiche gesundheitliche Entwicklung und Sozialisation ein –
nämlich in der Kindheit und im Heranwachsendenalter. Die Befunde zeigen
deutlich, dass frühe psychische Störungen vielfältige negative Effekte
auf viele Bereiche des Lebens haben (z.B. akademische Erfolge,
berufliche Karriere, Partnerschaft und Familienleben). Bleibt eine
adäquate Behandlung einer psychischen Störung im frühen Verlaufsprozess
aus, ist das Risiko für eine lebenslange Leidengeschichte und
Beeinträchtigung stark erhöht.



Frauen
haben ein höheres Risiko, an psychischen Störungen wie Angst,
Depression und somatoforme Störungen zu erkranken als Männer. Ausnahmen
sind Substanzabhängigkeit, Psychosen und Bipolare (manisch-depressive)
Störungen. Frauen haben zudem ein erhöhtes Risiko, komplexe komorbide
Störungsmuster zu entwickeln. Da die meisten psychischen Störungen bei
Frauen überwiegend in den gebärfähigen Jahren ihres Lebens auftreten,
haben diese wiederum negative Auswirkungen auf ihre Neugeborenen und
deren weitere Kindesentwicklung.



Mit
geringen Unterschieden zwischen den EU-Ländern erhalten nur 26% aller
Betroffenen mit psychischen Störungen irgendeine und noch weniger eine
adäquate Behandlung. Oft vergehen viele Jahre und manchmal Jahrzehnte,
bevor eine erste Behandlung eingeleitet wird. Ausnahmen sind Psychosen, schwere Depressionen und komplexe komorbide (Mehrfacherkrakungen) Muster.



Unbehandelt
verlaufen viele psychische Störungen häufig chronisch mit zunehmenden
Komplikationen. Die Besorgnis erregend niedrige Behandlungsrate von
psychischen Störungen, die in keinem anderen Bereich der Medizin in
diesem Ausmaß bisher beobachtet werden konnte, kann nicht allein mit
der immer noch den psychischen Störungen anhaftenden Stigmatisierung
erklärt werden.



Ein Schlüsselkriterium der Diagnostik aller psychischen Störungen ist, dass sie mit Leiden des Betroffenen
und gravierenden Belastungen und negativen Folgen im beruflichen,
familiären und sozialen Rahmen einhergehen. Angesichts der Häufigkeit
und Schwere psychischer Störungen erscheint es nicht überraschend, dass
die Studie aufzeigt, dass von allen Arbeitsunfähigkeitstagen pro Jahr
die Mehrzahl auf psychische Störungen, und nicht etwa auf somatische
Erkrankungen zurückgeführt werden kann.



Die
Hauptmasse der gesamten gesundheitsökonomischen Kosten von psychischen
Störungen sind deshalb keine direkten, sondern indirekte Kosten des
Gesundheitssystems. So haben die gemeinsamen Analysen des European
Brain Council und der ECNP-Arbeitsgruppe ergeben, dass psychische Störungen jedes Jahr fast 300 Milliarden Euro Gesamtkosten ausmachen, von denen allein
132 Milliarden Euro mit indirekten Kosten (krankheitsbedingte
Ausfalltage, früherer Eintritt in den Ruhestand, vorzeitige
Sterblichkeit und verringerte Arbeitsproduktivität wegen psychischen
Problemen) zusammenhängen.



Nur 110 Milliarden Euro werden
demgegenüber für direkte Kosten (Hospitalisierung und Hausbesuche von
Patienten) ausgegeben. Die Kosten für die medikamentöse Therapie – als
die am häufigsten eingesetzte Behandlungsart – beansprucht dagegen nur
4% der Gesamtkosten von psychischen Störungen; die für
psychotherapeutische Leistungen liegen weit unter 1%.



Studienleiter Prof. Hans-Ulrich Wittchen, Technische Universität Dresden,
hebt hervor, dass wir in unserem Verständnis für psychische Störungen
umlernen müssen. Psychische Erkrankungen sind keine seltenen
Erkrankungen, jeder kann zu jedem Zeitpunkt im Lebensverlauf betroffen
sein. „Psychische Störungen sind Erkrankungen unseres Gehirns und
Nervensystems – dem komplexesten Organ des Menschen! Warum sollte
ausgerechnet dieser komplexe Teil unseres Körpers weniger häufig
erkranken, als andere Organe unseres Körpers?“



WANC 08.12.05/TU Dresden

 
 
 
 
 
 
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