Tabletten
Nebenwirkungen: Werden unzulänglich erfasst (Foto: ABDA)
> Nebenwirkungen von Medikamenten: Systematisch übersehen

Überprüfung
von weltweiten Studien zu Cholesterinsenkern offenbaren erhebliche
Mängel. Bie jedem vierten bis fünften Medikament muss nach der
Zulassung noch das Wirkprofil verändert werden, weil unbekannte
Nebenwirkungen auftreten. Ein Grund dafür ist, dass Beschwerden im
Zusammenhang mit der Einnahme des Medikaments oft völlig falsch
bewertet werden.


Wissen
Patienten und Ärzte tatsächlich genau, welche Nebenwirkungen die
verabreichten Medikamente haben? Und richtet sich schon in den
klinischen Studien, die zumeist von Pharmaunternehmen finanziert
werden, die Konzentration allzusehr auf die Hauptwirkung eines
Präparats, so dass Nebenwirkungen nur unzulänglich erfasst werden?



Eine
Studie des Klinischen Psychologen und Psychotherapeuten Professor Dr.
Winfried Rief von der Philipps-Universität Marburg, die er an der
Harvard Medical School in Boston, USA, durchführte, zeigt, dass selbst
sehr große und aufwändige klinische Studien erhebliche Mängel bei der
Ermittlung von Nebenwirkungen aufweisen.



"Ausgangspunkt unserer
Überlegungen", erklärt Rief, "war die Tatsache, dass bei zwanzig bis 25
Prozent aller zugelassenen Medikamente noch nach der Zulassung das
Wirkprofil verändert werden muss, weil plötzlich bislang unbekannte
Nebenwirkungen auftreten - dann also, wenn alle klinischen Studien
bereits abgeschlossen sind!"



Die Arbeitsgruppe um Rief
untersuchte daraufhin über vierzig klinische Studien weltweit -
darunter auch die "Flaggschiffe der Medizin" (Rief) mit jeweils zwei
mal 10.000 Patienten (je eine Gruppe erhielt das Medikament, die andere
ein Placebo). "Wir haben ausschließlich Studien zu Statinen analysiert,
weil diese Gruppe von Medikamenten die weltweit bestuntersuchte ist."
Statine sind Cholesterinsenker, die etwa zur Vorbeugung gegen
Herzinfarkt und Hirnschlag verabreicht werden. "Außerdem haben wir nur
die Placebo-Gruppen berücksichtigt, um sicherzustellen, dass unsere
Ergebnisse unabhängig von der chemischen Wirkung der Medikamente sind."



Dabei
zeigte sich Erstaunliches. Unter anderem variierte die Anzahl der
Nebenwirkungen in unterschiedlichen Studien enorm. "Beispielsweise
wurde bei einer Studie in zwölf Prozent der Fälle von Bauchschmerzen
berichtetet, bei einer Vergleichsstudie nur in einem Prozent, obwohl
beide Male Placebos verabreicht wurden." Wissenschaftlich gesehen seien
solche Differenzen "völlig unverständlich", so Rief, zumal
Bauchschmerzen ohnehin zu den Alltagsbeschwerden gehören und somit eine
gewisse Grundwahrscheinlichkeit aufweisen.



In einer zweiten
Analyse fand Rief zudem heraus, dass Alltagsbeschwerden in manchen
Studien wesentlich seltener berichtet wurden, als angesichts ihrer
Grundwahrscheinlichkeit in der Alltagsbevölkerung hätte vermutet werden
müssen. Und schließlich zeigte sich auch, dass Studienärzte ebenso wie
Patienten zahlreiche Nebenwirkungen auf das Medikament zurückführten -
selbst dann, wenn der Patient in der Placebogruppe war.



"Die
Gründe für solche verwirrenden Befunde sind vielfältig", meint Rief.
Unter anderem seien viele Studien so geplant, dass "für den
therapeutischen Zweck ein sehr gutes Maßband, für die Nebenwirkungen
aber nur ein grobes Raster" angelegt wird. Beispielsweise schätzen die
Organisatoren der Studien ab, bei wievielen Patienten eine positive
Wirkung zu erwarten ist, und legen daraufhin die Zahl der
Studienteilnehmer gerade so groß fest, dass die Hauptwirkung des
Medikaments noch sicher nachgewiesen werden kann.



"Die
Nebenwirkungen aber treten mit einer viel geringeren Wahrscheinlichkeit
als die Hauptwirkung auf", so Rief, "sodass die Stichprobe in der Regel
viel größer sein müsste, um auch die Nebenwirkungen sicher
nachzuweisen."



Zudem begehen Studienärzte ebenso wie Patienten
zahlreiche Fehler bei der Beurteilung von Beschwerden: "Oft werden sie
dem Medikament zugeordnet, obwohl sie zum Beispiel nur das Ergebnis
übermäßigen Kaffeekonsums sind. Häufig geschieht aber auch das genaue
Gegenteil: Die Folgen des Kaffeekonsums werden dem Medikament
angelastet."



Ein besonders schwerwiegender Mangel zeige sich
auch in der Erfassung von medizinisch besonders kritischen Symptomen,
fügt Rief hinzu: "Bei muskulärer Schwäche etwa, die für den Patienten
bei Einnahme von Statinen sehr gefährlich werden kann, sollte man davon
ausgehen können, dass dieses Symptom besonders präzise erfasst wird -
tatsächlich aber ist dies nicht der Fall."



Aus seinen
Ergebnissen leitet Rief nun mehrere Forderungen an klinische Studien
ab. "Zum einen muss die Qualität der Mess- und Erfassungsinstrumente
sowohl in Bezug auf die Haupt- als auch auf die Nebenwirkung eines
Medikaments gleich hoch sein!", so Rief. Zudem müssen auch
Studienabbrecher im Endergebnis einer Studie berücksichtigt werden:
"Wenn ein Patient die Teilnahme wegen großer Nebenwirkungen abbricht,
gehen seine Daten oft nicht mehr in die Statistik der Nebenwirkungen
ein." Dabei seien gerade die Berichte dieser Patienten von besonderem
Interesse.



Und schließlich müsse auch die
Grundwahrscheinlichkeit von Alltagsbeschwerden viel stärker Eingang in
die Auswertungen finden, weil letztlich nur die Abweichung von dieser
"baseline" signifikante Ergebnisse hervorbringt. Erst wenn all dies
berücksichtigt ist, werden sich "Patienten und Ärzte sicher fühlen
können: Weder werden sie von einer wissenschaftlich nicht haltbaren und
überlangen Liste von Nebenwirkungen eines eigentlich indizierten
Präparats abgeschreckt, noch müssen sie unbekannte Risiken eingehen",
fordert Rief.



WANC 08.02.06

 
 
 
 
 
 
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