> Liberation Treatment bei MS: Umstritten, Nutzen nicht belegt
Das ist die Theorie: Verengte Venen im Hals sorgen dafür, dass das Gehirn nicht mit genügend Blut versorgt wird. Diese Blockaden sorgen dafür, dass bei manchen Menschen Multiple Sklerose (MS) entsteht. Die logische Behandlung: Die Halsvenen werden geweitet, der Blutfluss wieder hergestellt und …. die durch MS entstandenen neurologischen Störungen verschwinden. Mehr Hoffnung als Realität? Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) warnt vor dem Eingriff. Denn neueste Daten zur Behandlung liefern negative Ergebnisse.

Dass Blutflussblockaden MS verursachen können, nennt sich Venöse Stauungshypothese der MS (CCSVI). Die DGN sagt dazu: Diese Hypothese ist nicht haltbar. Der Eingriff, mit dem die Halsvenen - die innere Drosselvene (Vena jugularis interna) oder die Vena azygos - mittels eines Katheters geweitet werden, nennt sich  Liberation Treatment oder Venoplastie. Prof. Hemmer, Direktor der Neurologischen Klinik der TU München und Sprecher des Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS) sagt dazu: „Wir müssen MS-Patienten trotz ihrer großen Hoffnungen dringend davon abraten, das sogenannte Liberation Treatment in Anspruch zu nehmen.“

Erfahrungsberichte von Patienten hören sich tatsächlich euphorisch an. Sie berichten davon, dass es nach dem Liberation Treatment "bereits im Tagesverlauf" zu Verbesserungen gekommen sei. Andere freuen sich, dass die gestörten Funktionen "innerhalb von wenigen Stunden bis zu wenigen Tagen" zurück gekehrt seien.

Skeptisch? Einer der Verfechter des Liberation Treatment, der italienische Gefäßchirurg Dr. Paolo Zamboni, hat 2011 Daten aus einer Studie an 65 MS-Patienten veröffentlicht. Die Aufweitung der Gefäßenge erhöhte sich der Anteil der Patienten ohne MS-Schübe, nach einem Jahr hatte sich die Erkrankung bedeutend gebessert.

Immer noch skeptisch? Untersuchungen an der Neurologischen Klinik der Bochumer Universität und der Berliner Charité ergaben, dass nur bei einem bis vier von zehn MS-Patienten eine Veränderung des venösen Blutflusses überhaupt  nachzuweisen war. Doch bei keinem konnten die Ärzte eine Verengung der Halsvene finden.

Eine neue Studie - die sogenannte PREMiSe-Studie (Prospective Randomized Endovascular Therapy in MS) - zeigte nun, dass der Gesundheitszustand von MS-Patienten, die eine Venoplastie erhalten hatten, nach einem halben Jahr viel schlechter war als der einer Patienten-Vergleichsgruppe ohne diese Behandlung. In der behandelten Gruppe gab es sogar mehr MS-Schübe. Laut DGN hatten sich auch Größe und Zahl der Verletzungen im Gehirn, die bei MS typisch sind, nicht verändert. Dagegen schien die Venoplastie die Krankheitsakivität verstärkt zu haben. Eine anhaltende Verbesserung der MS konnte nicht festgestellt werden.

Liberation Treatment ist weltweit seit 2009 weltweit bei rund 30.000 MS-Patienten eingesetzt worden. Die DGN wundert sich, dass diese Behandlungen erfolgen, obwohl der tatsächliche Nutzen niemals in Studien, die höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, bewiesen wurde. Auch weil dieser Nachweis bisher fehlt, übernehmen deutsche Krankenkassen die Behandlungskosten nicht. MS-Patienten, die sich mittels Liberation Treatment therapieren lassen wollen, müssen in tief in die Tasche greifen. Die Gesellschaft moniert, dass Selbstzahlern zu Preis von "mehreren Tausend Euro" angeboten werde.

Etwas genauer ist das schon ein Bericht in der Medial Tribune (MT). Die weiß zu berichten, dass vor allem Polen, Bulgarien und andere Länder Osteuropas zu derartigen Eingriffen locken. Hunderte von Patienten soll der im polnischen Katowitz praktizierende Dr. Marian Simka behandelt haben. Die Preise für das CCSVI-Screening belaufen sich auf 1500 bis 2500 Euro, die Kosten für die Behandlung liegen bei 2000 bis 4500 Euro, rechnet die MT vor.

Derartige Praktiken hält die DGN für unvertretbar. Patienten dürften nicht mehr außerhalb von klinischen Studien mit der Venoplastie behandelt werden. Erst müsse genau geklärt werden, was diese Therapie wirklich bringe. Das sollte dann aber auch geschehen, damit MS-Patienten endlich wissen, ob sie echte Heilung erwarten dürfen.



Berliner Ärzteblatt 26.03.2013/ Quelle: AAN 2013

 
 
 
 
 
 
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