Selbst bei schweren psychischen Erkrankungen erhält weniger als die Hälfte der Betroffenen eine therapeutische Hilfe
> Psychisch Kranke: Unter- und fehlversorgt

Psychische Erkrankungen sind häufig: Neun Prozent der deutschen Bevölkerung leiden darunter, allein fünf Prozent an Depressionen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) weist psychische Erkrankungen als eine führende Ursache für Verlust an Lebensqualität weltweit aus – und zwar mit deutlich steigender Tendenz. Trotzdem herrscht in Deutschland eine erschreckende Unter- und Fehlversorgung psychisch Kranker.

Ein aktueller Bericht der WHO besagt, dass mehr als neun Prozent der Bevölkerung in Deutschland aktuell an einer psychischen Erkrankung leidet, die Hälfte davon in deutlicher oder schwerer Ausprägung. Diese ausgeprägten Schweregrade stehen in engem Zusammenhang mit der Anzahl von Tagen mit Arbeits- und Funktionsunfähigkeit. Hinzu kommt, dass es bei den meisten länger dauernden psychischen Erkrankungen wiederkehrende Krankheitsepisoden gibt.

Insgesamt liegt das Vorkommen in der Gesamtbevölkerung - über die Lebenszeit gesehen - deutlich höher, nämlich bei etwa 25 Prozent, betont Prof. Dr. med. Wolfgang Maier, Universitätsklinikum Bonn, Psychiatrie und Psychotherapie. Jeder Vierte leidet also irgendwann im Leben an seelischen Krankheiten. Und wiederrum rund ein Viertel der Betroffenen leidet unter chronischen psychischen Störungen.


Die Diagnose einer psychischen Störung erfolgt nicht einfach durch eine willkürliche Definitionen von Ärzten und Therapeuten. Unbedingte Voraussetzung sind gemäß der internationalen Krankheits-Klassifikationssysteme (ICD-10 und DSM IV TR) neben spezifischen Beschwerden und Symptomen eine deutliche Verringerung beruflicher Leistungsfähigkeit oder andere psychosoziale Beeinträchtigung. Jede so diagnostizierte Erkrankung erfordert also eine adäquate Behandlung, erläutert Maier.


Der World Mental Health Survey der WHO unterstreicht, dass die aktuelle Situation in Deutschland von diesem Erfordernis weit entfernt ist. Selbst bei schweren psychischen Erkrankungen erhält weniger als die Hälfte der Betroffenen eine therapeutische Hilfe; bei anderen aktuell Betroffenen liegt die Behandlungsrate sogar nur bei maximal 30 Prozent. Nirgendwo in Europa (von der Ukraine abgesehen) ist die Behandlungsrate so gering. Es besteht also eine Unterversorgung für psychische Erkrankungen. Maier: "Und dies liegt nicht etwa daran, dass es bei uns 'einfach zu viele' psychisch Kranke gäbe: Die Erkrankungshäufigkeiten in Deutschland sind eher geringer als in anderen Ländern."


Entrüstet sich Maier deshalb: "Die Diskussion um "erfundene Krankheiten" verschlimmert die Nöte der Betroffenen und erhöht ihre Scham wegen ihrer psychischen Beeinträchtigung. Die Diskussion verhindert damit frühzeitige störungsspezifische Hilfen und erschwert den Aufbau und den Zugang zu therapeutischen Angeboten."

Internationale, aber auch in Deutschland im Rahmen des Kompetenznetzes "Depression und Suizidalität" durchgeführte Untersuchungen erbrachten alleine bei Depressionen erhebliche Unter- und Fehlversorgungen. Prof. Dr. Mathias Berger, Universitätsklinikum Freiburg, nennt die Gründe:
1. Häufig nennen Patienten bei Arztbesuchen ihre psychischen Probleme nicht, da sie befürchten, sich dadurch gesellschaftlichen Ausgrenzungen ("Stigma") auszusetzen.
2. Häufig werden Depressionen, insbesondere in der hausärztlichen Praxis, nicht diagnostiziert.
3. Auch bei diagnostizierten Depressionen werden sehr häufig die notwendigen Therapiemaßnahmen, insbesondere über den notwendigen Zeitraum hinweg, nicht durchgeführt.
4. Die Zahl der niedergelassenen Ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie ist, gemessen am Bedarf, zu gering und die Patientenzahlen pro Praxis sind im Schnitt zu hoch, um eine ausreichende und differenzierte Therapie gewährleisten zu können.
5. Überregionale Qualitätssicherungsprojekte haben gezeigt, dass die Depressions-behandlung in psychiatrisch-psychotherapeutischen Kliniken sehr gut ist. Es besteht jedoch eine ungenügende Vernetzung mit den ambulanten Therapieeinrichtungen.
6. Die Qualität der Behandlung Depressiver in internistischen und psychosomatischen Krankenhäusern ist nicht bekannt und bisher nicht gesichert.


WANC 26.11.04/DGPPN

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