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Verbitterung: Aus dem ständigen Hadern mit dem widerfahrenen Schicksal kann sich eine lang anhaltende psychische Krankheit entwickeln (Foto: Stock photo)
> Unversöhnlichkeit kann psychisch krank machen
Verbitterung kann in verstärkter Form
ähnlich wie Angst zu einem krankheitsähnlichen Zustand führen, der
Betroffene schwer beeinträchtigt und Behandlung erfordert. Dabei weitet
sich die sogenannte Verbitterungsstörung in zerstörerischer Weise aus,
wobei die Symptome von Selbstzweifel, Appetitlosigkeit, Depressionen,
Phobien und Aggressionen bis hin zu Selbstmordgedanken reichen. Geheilt
werden kann die Erkrankung durch die Prozesse von Vergeben und
Verzeihen.
„Analog zur posttraumatischen Belastungsstörung, die bereits gut
erforscht ist, gibt es auch eine posttraumatische
Verbitterungsstörung", erklärt der Psychotherapeut Raphael Bonelli. Anders als bei der Belastungsstörung bildet sich die krankhafte
Verbitterung meist infolge von weniger massiven Ereignissen, die jedoch
Menschen in ihren zentralen Lebensbereichen betreffen. „Das kann eine
Kündigung sein, die nach jahrelanger Tätigkeit am selben Arbeitsplatz
erfolgt, die Trennung in einer Partnerschaft oder auch gebrochene
Treue. Betroffene fühlen sich häufig ungerecht behandelt und sehen nur,
dass es den anderen besser geht", so Bonelli. Aus dem ständigen Hadern mit dem widerfahrenen Schicksal könne sich
eine lang anhaltende psychische Krankheit entwickeln. „Alles Unglück
wird auf ein Unrecht in der Vergangenheit zurück geführt, das nicht
mehr änderbar ist, das aktiv in Erinnerung bleibt und an dessen Wunden
ständig gerissen wird." Dieses Ereignis müsse unter objektiver
Betrachtung gar nicht ungerecht sein, werde jedoch so erlebt. Die lange, manchmal sogar lebenslange Dauer der Verbitterung kommt laut
Bonelli dadurch zustande, dass Betroffene oft in einer passiven
Opferrolle verharren. „Es bildet sich eine Unversöhnlichkeit, die das
Verstehen der anderen Seite unmöglich macht." Aus Trotz gehen viele nicht in Therapie, sondern verbohren sich im
eigenen Unglück. „Das hat zwar den positiven Nebeneffekt, dass das
Umfeld Mitleid bekundet, doch bietet das bloß eine bittere und kurze
Befriedigung. Zudem verstärkt Mitleid in diesem Fall bloß die passive
Haltung und erschwert aktive Änderungen." Die Krankheit weite sich auch
in andere Lebensgebiete in zerstörerischer Weise aus, wobei die
Symptome von Selbstzweifel, Appetitlosigkeit, Depressionen, Phobien und
Aggressionen bis hin zu Selbstmordgedanken reichen. „Viele vereinsamen
und gehen nicht einmal mehr auf die Straße", so der Wiener Psychiater. Überwinden kann man Verbitterung durch das Loslassen. „Verbitterte
wollen die absolute Gerechtigkeit hier und jetzt erleben. Man kommt
jedoch erst durch die Erkenntnis weiter, dass diese Gerechtigkeit nicht
existiert und alles Erlebte bloß relativ ist." Der Berliner Psychiater Michael Linden, der 2003 als erster das
Krankheitsbild beschrieben hat, schlägt für die Behandlung eine
sogenannte "Weisheitstherapie" vor. „Es geht darum, das erfahrene
Unrecht zu ertragen statt an ihm zu verzweifeln. Dabei versucht man
unter anderem, die Perspektive zu wechseln", so Bonelli. Entsprechend
der klassischen Methodik wird der Konflikt zunächst aufgezeichnet und
dann in verschiedenen Sichtweisen dargestellt, deren Existenz von
Erkrankten zuvor oft geleugnet wurde. Der Therapeut berührt jedoch
nicht den inhaltlichen Grund der Verbitterung, sondern andere,
scheinbar unlösbare Situationen. Diese lassen leichter erkennen, dass
ein Weg aus dem Unglück heraus existiert. Ein Schwerpunkt liegt auf der Vergebung. „Bisher wurde dieser Aspekt in
Europa kaum wissenschaftlich behandelt, vermutlich aus Angst, dass der
Begriff automatisch Religion impliziert. Verzeihung ist jedoch in
erster Linie ein psychischer Akt statt ein religiöses Phänomen", betont
Bonelli. Verzeihung als "beste Form des Loslassens" beschreibe einen Prozess,
der im wesentlichen zwei Voraussetzungen brauche. „Erstens ist die
Erkenntnis nötig, dass man auch selbst Fehler macht. Erst dadurch wird
man bereit, auch dem Täter falsches Handeln zugestehen zu können.
Zweitens brauche man eine Portion Großmut, um tatsächlich ein 'Schwamm
drüber!' sagen zu können." Gibt es auch bisher keine Schätzungen, bei wie vielen Menschen die
Verbitterungsstörung auftritt, trifft man sie in der
psychotherapeutischen Praxis laut Bonelli dennoch sehr häufig an.
Besonders sei die Störung in Großstädten verbreitet. „Im anonymen
Lebensstil der Stadt sind die Menschen weitaus verletzlicher als in
einem stabilen sozialen Umfeld", vermutet der Experte. Mit im Spiel sei auch die Tatsache, dass die Störung besonders dort
auftritt, wo Menschen ihr Lebensglück an eine einzige Sache hängen und
diese dann verlieren. „In der Stadt ist die Zahl der 'Worcaholics'
besonders hoch. Da geht die Welt öfter unter, sobald eine Kündigung
ausgesprochen wird." WANC 06.10.09/ Quelle: Fachtagung RPP 2009, pte
 
 
 
 
 
 
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