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In der Wissenschaft wird das Phänomen des Verscheigens oder Unterschlagens von Informationen "publication bias" genannt, zu Deutsch etwa "Verzerrung durch selektives Veröffentlichen" (Foto: Stock photo)
> Medizinische Studien: Verschweigen, unterschlagen, schönen

Die Veröffentlichung von
wissenschaftlichen Studien zur Wirkungsweise von Medikamenten ist nach
Ansicht des Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen (IQWiG) eine Abfolge des Verschweigens und
Unterschlagens. Dadurch würden Ergebnisse verzerrt und geschönt, damit
der Nutzen der Therapien besser wegkomme. Und schlechte Nachrichten und
Misserfolgsmeldungen blieben unveröffentlicht. Zum Schaden der
Patienten/innen.
Niemand weiß, wie vielen Müttern und Kindern die Geburtszange bereits
das Leben gerettet hat. Das Instrument gehört seit etwa 250 Jahren zur
Grundausstattung jedes Kreißsaals. Trotzdem gibt es einen Schatten auf
der Erfolgsgeschichte: Denn nachdem die Brüder Chamberlen die Zange
Anfang des 17. Jahrhunderts erfunden hatten, wurde sie über 3
Generationen von ihnen und ihren Nachkommen eingesetzt, aber vor
anderen Geburtshelfern geheim gehalten. Während die Familie der
Chamberlens sich dank der Zange Ruhm und Reichtum erwarb, starben
andernorts weiterhin Mütter und Kinder, weil das Instrument dort nicht
verfügbar war.

 Die Geschichte der Geburtszange bezeichnet das Institut für Qualität
und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) als eines der
ältesten dokumentierten Beispiele dafür, welche Folgen Geheimhaltung in
der Medizin haben kann. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Instituts
haben über 60 weitere Fälle zusammengetragen, wie die Ausbreitung von
Wissen in der Medizin behindert wurde. Die Spannbreite der betroffenen
Verfahren reicht von Arzneimitteln über Impfstoffe bis hin zu
Medizinprodukten wie Ultraschallgeräten oder Hilfsmitteln zur
Wundversorgung. 

 In der Wissenschaft wird das Phänomen des Verscheigens oder
Unterschlagens von Informationen "publication bias" genannt, zu Deutsch
etwa "Verzerrung durch selektives Veröffentlichen". Das geschieht auf
zwei Ebenen. Auf der obersten Ebene bleiben ganze Studien
unveröffentlicht: So zeigt eine Analyse von 90 neu in den USA
zugelassenen Medikamenten, dass diese in insgesamt 900 Studien erprobt
worden waren. Aber auch 5 Jahre nach der Zulassung waren 60 % dieser
Studien noch nicht veröffentlicht. 

 Auf der zweiten Ebene werden nur ausgewählte Ergebnisse aus Studien
publiziert: Forscher müssen heute vor Beginn einer Studie in einem so
genannten Studienprotokoll aufschreiben, welche Ergebnisse sie messen
wollen und wie diese ausgewertet werden. Vergleiche mit späteren
Veröffentlichungen in Zeitschriften zeigen, dass in 40 bis 60 % der
Studien Ergebnisse entweder ganz weggelassen oder die Auswertungen
geändert wurden. „Dadurch werden Studienergebnisse oft positiver
dargestellt als sie es eigentlich sind", moniert Beate Wieseler,
Stellvertretende Leiterin des Ressorts Arzneimittelbewertung im IQWiG.

 Das betreffe nicht nur pharmafinanzierte Studien. So zitieren die
IQWiG-Mitarbeiter eine Analyse, in der 2000 Studien im Bereich
Krebsmedizin nach Geldgebern getrennt ausgewertet wurden. Hier war der
Anteil publizierter Studien extrem niedrig: Von den
industriefinanzierten Projekten waren 94 Prozent nicht veröffentlicht,
aber auch von den durch Universitäten finanzierten Projekten fehlten 86
%. „Auch Zulassungsbehörden sind aufgrund gesetzlicher Regelungen
teilweise dazu gezwungen Daten zurückzuhalten", betont Thomas Kaiser,
Leiter des Ressorts Arzneimittelbewertung.

 Das habe oft Konsequenzen für Patientinnen und Patienten. Es könne
einerseits dazu führen, dass - wie im Fall der Geburtszange -
vorteilhafte Maßnahmen zu spät eingesetzt würden oder sich zu langsam
ausbreiten. Häufiger sei aber, dass gerade schlechte Nachrichten und
Misserfolgsmeldungen unveröffentlicht blieben. „Das hat zur Folge, dass
Ärzte und Patienten Therapien einsetzen, die in Wahrheit nutzlos oder
sogar schädlich sind", meint Wieseler. Forscher schätzen zum Beispiel,
dass in den 1980er Jahren verschriebene Medikamente gegen
Herzrhythmusstörungen zehntausende Menschen das Leben gekostet haben
sollen, weil frühe Hinweise auf gefährliche Nebenwirkungen nicht
veröffentlicht wurden. 

 Auslöser für die Suche nach dokumentierten Beispielen für "publication
bias" waren Erfahrungen des Instituts in der täglichen Arbeit, zuletzt
beispielsweise bei der Bewertung des Medikaments Reboxetin zur
Behandlung von Depressionen. Das IQWiG gibt dazu an, dass das
Pharmaunternehmen Pfizer dem IQWiG erst unter öffentlichem Druck
Studien zur Verfügung gestellt habe, die es bis dahin unter Verschluss
gehalten hatte. Und in diesen unveröffentlichten Studien soll Reboxetin
erheblich schlechter abgeschnitten haben, als es zuvor anhand der
veröffentlichten Studien den Anschein hatte. „Über viele Jahre wurden
Patientinnen und Patienten, aber auch Ärztinnen und Ärzte getäuscht",
behauptet Wieseler.

 Die in "Trials" veröffentlichte Fallsammlung zeige, dass die Neigung,
unliebsame oder nicht den eigenen Erwartungen entsprechende Ergebnisse
unter den Tisch fallen zu lassen, so weit verbreitet sei, dass Appelle
und Vorschläge freiwilliger Lösungen das Problem nicht wirksam beheben
könnten. „Die zunehmende Anmeldung von Studien in öffentlichen
Registern ist ein wichtiger erster Schritt", fordert Kaiser, „wir
brauchen aber zum Schutz von Patienten gesetzliche Regelungen, damit
Ergebnisse aller klinischen Studien zügig und vollständig
veröffentlicht werden." Das IQWiG wurde 2004 gegründet. Es ist dem Gesetz nach ein unabhängiges
wissenschaftliches Institut, das evidenzbasierte (beweisgestützte)
Gutachten zu Arzneimitteln, nichtmedikamentösen Behandlungsmethoden
(z.B. Operationsmethoden), Verfahren der Diagnose und Früherkennung
(Screening) sowie Behandlungsleitlinien und Disease Management
Programmen (DMP) erstellt. Dabei soll es Vor- und Nachteile der
Medikamente und Methoden bewerten. Finanziert wird das IQWiG durch
Zuschläge für stationäre und ambulante medizinische Behandlungen, also
letztlich aus den Beiträgen der Mitglieder aller Gesetzlichen
Krankenversicherungen (GKV). Die Höhe der Zuschläge legt der Gemeinsame
Bundesausschuß (G-BA) jährlich fest. Zwar entscheidet das IQWiG nicht selbst, ob ein Medikament oder eine
Methode von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet wird. Das
legt letztlich der G-BA fest, doch der Einfluß des IQWiG ist durch
seine Studien schon enorm. Kritiker werfen dem IQWiG vor, dass es
eigentlich nur dafür da sei, die Kassenleistungen zu beschränken. Ein
weiterer Vorwurf ist, dass die Auswahl der Studien, die für eine
Bewertung heran gezogen werden, intransparent und willkürlich sei. Und
schließlich halte das Verfahren zur Bewertung - dabei geht das IQWiG
einen ganz eigenen Weg - den internationalen Anforderungen und
Maßstäben nicht stand. WANC 19.05.10, Quelle: Trials 2010, doi:10.1186/1745-6215-11-37

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