Neugeborene: Die zukünftigen 100-Jährigen

Wir werden immer älter. Besonders die,
die heute geboren werden. Und unser längeres Leben können wir auch
besser genießen. Denn wir sind in der Lage, die Aktivitäten des
täglichen Lebens länger auszuführen, bleiben also auch bis ins hohe
Alter selbständig. Allerdings: Erkrankungen gehören zu unseren
Begleitern. So steigt die Gesamthäufigkeit von Krebserkrankungen. Und
andere chronische Krankheiten wie Diabetes und Gelenkentzündungen
treten häufiger auf.
Mehr als die Hälfte aller aktuell in den Industrienationen geborenen
Babies wird bis zu 100 Jahre alt werden, wenn der gegenwärtige Trend in
der Lebenserwartung anhält. Wir werden nicht nur länger leben, sondern
diese hinzukommenden Jahre auch mit weniger Behinderungen und
Beeinträchtigungen des täglichen Lebens verbringen als bislang. Darüber
hinaus lassen erst Erkenntnisse vermuten, dass verkürzte
Wochenarbeitszeiten innerhalb ausgedehnter Lebensarbeitszeiten einen
weiteren Anstieg der Lebenserwartung und Verbesserungen der Gesundheit
hervorbringen können. Eine starke Zunahme der Lebenserwartung (um 30 Jahre und mehr) wurden
in den meisten Industrienationen im Verlauf des 20. Jahrhunderts
festgestellt. Die Sterberaten in den Ländern mit den höchsten
Lebenserwartungen (Japan, Schweden, Spanien) deuten an, dass drei
Viertel der Neugeborenen lang genug leben werden, um den 75. Geburtstag
feiern zu können, selbst wenn sich die gesundheitlichen Bedingungen
nicht verbessern sollten. Wenn sich die Lebenserwartung allerdings in
gleichem Maße positiv verändern, dann könnten die meisten der seit 2000
in Industrieländern Geborenen davon ausgehen, dass sie ihren 100.
Geburtstag erleben werden. Daher werden die Raten von Krankheiten und
Behinderungen im Alter einen zunehmenden Effekt auf die Nachhaltigkeit
der modernen Gesellschaft haben. Der bereits seit 1840 offenkundige Anstieg der Lebenserwartung in den
Industrienationen zeigt keinerlei Anzeichen einer Verlangsamung. Die
Autoren bemerken: "Der seit mehr als 165 Jahren lineare Anstieg der
maximalen Lebenserwartung deutet keine sich abzeichnende Grenze der
menschlichen Lebensspanne an. Wenn sich die Lebenserwartung einem
Grenzwert annähern würde, so würde sich dieser Prozess sicherlich
verlangsamen. Der anhaltende Fortschritt in den ältesten Bevölkerungen
lässt vermuten, dass wir uns noch keiner Grenze nähern, und dass ein
weiterer Anstieg der Lebenserwartung wahrscheinlich ist." Die Sterblichkeitsrate bei den über 80-jährigen Personen in den
Industrieländern sinkt weiter. Daten aus mehr als 30 entwickelten
Ländern zeigen, dass im Jahr 1950 die Wahrscheinlichkeit des Überlebens
vom 80. bis zum 90. Lebensjahr für die Frauen im Mittel bei 15 bis 16
Prozent lag, bei 12 Prozent für die Männer. Im Jahr 2002 betrugen diese
Werte bereits jeweils 37 und 25 Prozent. Da die Sterblichkeit der Kinder und jungen Erwachsenen in diesen
Ländern sehr gering ist, wird ein weiterer Anstieg der Lebenserwartung
durch weitere Verbesserungen in den hochbetagten Gruppen erreicht
werden. Die Autoren nahmen Deutschland als Fallbeispiel, um zu zeigen,
inwieweit die deutsche Bevölkerung im Jahr 2050 deutlich älter und aber
auch kleiner sein wird als heute. Diese Vorhersage trifft typisch auch
auf andere Industrieländer zu. Die Gesamthäufigkeit von Krebserkrankungen steigt, da immer mehr
Menschen länger leben. Andere chronische Krankheiten wie Diabetes und
Gelenkentzündungen treten ebenfalls häufiger auf. Die außerdem
festgestellte Zunahme der kardiovaskulären Erkrankungen wird allerdings
der sinkenden Sterblichkeit aus kardiovaskulären Gründen zugeschrieben
(unabhängig von einer besonderen Gruppe leben nun mehr Menschen mit der
Erkrankung, da weniger daran sterben). Der Schlüssel zur Lebensqualität im Alter sind funktionale Fähigkeiten,
und wie sich diese auf die Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL)
auswirken. Die Aktivitäten Essen, Ankleiden, Baden oder Duschen,
Bewegen aus Bett und Stuhl heraus sowie Kontinenz sind von zentraler
Bedeutung und werden als Basis-ADL-Leistungen bezeichnet. Störungen in
den erweiterten ADL-Leistungen beziehen sich auf Behinderungen, die
einen breiten Bereich von Aktivitäten beeinträchtigen, darunter
Telefonieren, Einkaufen, Waschen, Haushaltsführung, Kochen,
Verkehrsmittel, Medikamenteneinnahme und Umgang mit Finanzen. Hinweise
deuten vermehrt darauf, dass die Häufigkeit von Behinderungen, anhand
dieser Indikatoren gemessen, zurückgeht. Die europäische Health Expectancy Monitoring Unit (EHEMU) entwickelt
einen allgemeinen Indikator für eine behinderungsfreie Lebenserwartung
namens 'Healthy Life Years' (HLY). Die Trends innerhalb des Zeitraums
von 1995 bis 2003 aus 14 europäischen Staaten liegen vor. Personen, die
die Frage: "Werden ihre täglichen Aktivitäten durch jegliche
körperliche oder psychische Probleme, Krankheit oder Behinderung
erschwert?" des European Community Household Panel (ECHP) mit moderat
oder schwerwiegend beantwortet hatten, werden als beeinträchtigt
eingestuft. Auf Basis dieser Bewertung liegen die HLY in den europäischen Ländern
weit auseinander. Selbst unter den Ländern mit vergleichbaren
jährlichen Steigerungsraten der Lebenserwartung zeigen manche einen
Anstieg (Männer: Österreich, Belgien, Italien, Finnland, Deutschland;
Frauen: Belgien, Italien, Schweden), manche eine Stagnation (Männer:
Frankreich, Griechenland, Irland, Spanien; Frauen: Österreich,
Dänemark, Großbritannien, Finnland, Frankreich, Spanien) oder einen
Rückgang (Männer: Dänemark, Portugal, Niederlande, Schweden; Frauen:
Deutschland, Griechenland, Irland, Niederlande, Portugal) im Anteil der
Jahre, die im Alter von 65 oder mehr Jahren behinderungsfrei verbracht
wurden. Die Ungleichheiten in den HLY werden sogar noch größer, wenn
alle 25 Staaten der EU in Betracht gezogen werden. Eine ganze Reihe von Studien berichtete von umfangreicheren
Verbesserungen in der behinderungsfreien Lebenserwartung gegenüber der
reinen Lebenserwartung. Ein Vergleich von vier Gesundheitsbefragungen
in Frankreich folgert, dass die Zugewinne in der Lebenserwartung über
die letzten Jahrzehnte hinweg zwar Jahre mit moderaten Problemen
hinzugefügt haben könnten, Jahre mit ernsten Schwierigkeiten jedoch
nicht. Dieses Ergebnis wird durch deutsche und belgische Forschung gestützt.
Die Autoren stellen fest: "Anhaltende Neuerungen gesundheitlicher
Abläufe sind von Fortschritten bei älteren Personen abhängig, obwohl
die Grundlage für diesen Fortschritt zumindest teilweise auf
verbesserte Lebensbedingungen und Lebensführung in jungen Jahren
beruhen könnte. Fortschritte in Richtung verbesserte Gesundheit sind
wahrscheinlich von Bemühungen der öffentlichen Gesundheit abhängig,
insbesondere der Bekämpfung des Rauchens, der Fettleibigkeit, der
körperlichen Inaktivität, der unzureichenden Ernährung und des
übermäßigen Alkoholgenusses. Dazu gehören auch die Einrichtung von
verbesserten Lebensbedingungen und Fürsorge für Personen mit mehreren
Erkrankungen." Leben wir dann nicht nur länger, sondern auch besser? Die meisten
Hinweise lassen für die unter 85-Jährigen trotz des Anstiegs
chronischer Erkrankungen und Befindlichkeiten eine Verschiebung der
Beeinträchtigungen und Behinderungen erwarten. Dieser offensichtliche
Widerspruch ist zumindest teilweise durch frühzeitigere Diagnosen,
verbesserte Behandlungen und Besserungen bei verbreiteten Krankheiten
begründet, so dass diese weniger behindernd wirken. Die unter
85-Jährigen leben länger und sind insgesamt in der Lage, ihre täglichen
Aktivitäten länger auszuüben als frühere Kohorten. Für den Personenkreis der über 85-jährigen ist die Situation weniger
eindeutig. Die Datenlage ist dürftig, und es gibt verbreitet Bedenken,
dass eine außergewöhnliche Langlebigkeit betrübliche Folgen für die
Individuen wie auch für die Gesellschaft haben werden. Die Autoren
diskutieren die "allgemeine Betrachtungsweise in der klinischen Medizin
sowie unter manchen Gerontologen, wonach der erhebliche Zuwachs im
Anteil außergewöhnlich lange lebender Individuen in aufeinander
folgenden Geburtskohorten das Ergebnis einer Fürsorge sei, die einem
zunehmenden Anteil gebrechlicher und kranker Personen zu einem
vorgerückten hohen Alter verholfen habe, und dies mit einem gewaltigen
personellen und gesellschaftlichen Kostenaufwand." Forschungen in Dänemark zeigen, dass der Anteil unabhängiger Individuen
unter den 100-Jährigen ebenso groß ist wie unter den 92- bis
93-Jährigen. Während also immer mehr Menschen länger leben und der
Gesellschaft insgesamt eine höhere Last sind, so bedeutet eine
außergewöhnliche Lebenserwartung keineswegs ein außergewöhnlich hohes
Maß an Behinderung. Es ist jedoch die finanzielle Last einer alternden
Bevölkerung, die den meisten Industrienationen Kopfzerbrechen bereitet.
Die Altenbelastungsquote ist der Anteil der über 65-Jährigen geteilt
durch die Anzahl der Arbeitnehmer (15 bis 64 Jahre). In Deutschland
stieg der Anteil der 65-Jährigen oder Älteren unter den 15- bis
64-Jährigen von 16 im Jahr 1956 auf 29 im Jahr 2006. Dieser Wert soll
nach Schätzungen bis 2056 auf 60 ansteigen. Die Autoren schlagen als mögliche Strategie eine Umverteilung der
Beschäftigung vor, um damit den ökonomischen Folgen einer alternden
Gesellschaft begegnen zu können. Sie stellen fest: "Würden Menschen in
ihren 60ern und frühen 70ern häufiger arbeiten als derzeit, so könnte
die Mehrzahl aller Bürger insgesamt weniger Stunden pro Wochen
arbeiten, als gegenwärtig üblich - gesetzt den Fall, sie blieben
insgesamt mehr Jahre ihres längeren Lebens berufstätig. Erste
Ergebnisse liefern Hinweise, dass verkürzte Wochenarbeitszeiten
innerhalb ausgedehnter Lebensarbeitszeiten zu weiteren Zugewinnen in
der Lebenserwartung und der Gesundheit beitragen könnten. Umverteilung
von Arbeit wird jedoch nicht ausreichen, die kommenden
Herausforderungen zu meistern. Selbst wenn sich die individuelle
Gesundheit in jeder Altersgruppe verbessert, könnte insgesamt eine
größere Belastung entstehen, wenn die Anzahl der Individuen in diesem
Alter ausreichend zunimmt." Die Forscher folgern: "Zunehmend höhere Anteile alter und sehr alter
Personen werden große Herausforderungen an die Gesundheitssysteme
stellen. Aktuelle Hinweise lassen jedoch nicht nur vermuten, dass die
Menschen länger als zuvor leben werden, sondern auch, dass sie länger
mit weniger Behinderungen und geringeren funktionalen Einschränkungen
leben werden." WANC 06.10.09/ Quelle: K Christensen. Ageing populations: the challenges ahead. Lancet 2009; 374: 1196





Quelle:
http://www.medizinauskunft.de/home/artikel/index.php/kind/06_10_lebenserwartung.php
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