Foto: Philipps-Universität Marburg / AG Konrad
Empfindlicher Inhalt: Der Schädel soll das Gehirn vor Erschütterungen schützen, die nachhaltig negative Wirkungen haben können (Foto: Philipps-Universität Marburg / AG Konrad)
> Gehirnerschütterung: Sechs Jahre beeinträchtigt

Gehirnerschütterung – ein wenig
Bettruhe, aber sonst ohne Folgen. Das ist die langläufige Meinung. Doch
die ist grundlegend falsch. Die Wirkungen und Nachwirkungen einer
Gehirnerschütterung werden landläufig unterschätzt. Denn schon leichte
Gehirnerschütterungen haben gravierende Langzeitwirkungen. Eine Studie
hat jetzt heraus gefunden, dass die Betroffenen noch nach sechs Jahren
unter erheblichen Beeinträchtigungen ihrer geistigen Fähigkeiten
leiden. Und auch depressive Symptome zeigen sich nach einer
Gehirnerschütterung öfter.


„Ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma kann nach relativ geringen
Erschütterungen beim Sport, im Haushalt, nach Auffahrunfällen oder
Stürzen auftreten“, erklärt Dr. Carsten Konrad. Davon betroffen sind
bis zu drei Promille aller Menschen. Für Patienten, die eine
Gehirnerschütterung erlitten haben und danach emotionale oder kognitive
Beeinträchtigungen bemerken, ist es häufig schwierig, ihre Ansprüche
gegenüber Versicherungen oder Unfallgegnern durchzusetzen, da nach der
gängigen Lehrmeinung eine Gehirnerschütterung ohne Langzeitfolgen
bleibt. Die Wissenschaftler haben nun Hinweise darauf gefunden, dass diese
Auffassung falsch sein könnte. Die Wissenschaftler nahmen Patienten
unter die Lupe, die ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma erlitten haben,
und untersuchten sie psychiatrisch, neuropsychologisch sowie mittels
Magnetresonanztomographie. Die Patienten nach leichtem Schädel-Hirn-Trauma zeigten im Durchschnitt
nach sechs Jahren mittelstarke bis starke Beeinträchtigungen in
verschiedenen neuropsychologischen Bereichen wie Lernen und Gedächtnis,
Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen. Auch
depressive Symptome waren nach Gehirnerschütterung häufiger. Bei
denjenigen, die kein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatten, zeigte sich
kein derartiger Befund. „Wir können ausschließen, dass die beobachteten Beeinträchtigungen sich
durch depressive Symptome oder suboptimales Leistungsverhalten erklären
lassen“, führt Konrad aus. Die Ursachen der Langzeitwirkung sind aber
bisher unbekannt. Dass eine Gehirnerschütterung häufig unterschätzt wird, davor hat schon
Carol DeMatteo von der McMaster University in Hamilton gewarnt. Schon
der Begriff gebe den Anschein, dass eine rasche Genesung und zeitlich
begrenzte Symptome damit verbunden sind. Bei seiner Studie untersuchte
er 434 Kinder, die zur Behandlung einer Gehirnverletzung in die
Kinderklinik Hamilton gebracht worden waren. 300 der Kinder wiesen eine
traumatische Hirnverletzung auf, die als gravierend eingeschätzt wurde.
Trotz des Schweregrads der Verletzung wurden diese Kinder früher aus
dem Krankenhaus entlassen und blieben weniger Tage der Schule fern, als
die übrigen Patienten. DeMatteo betont, dass die Krankheit oft
gefährlich verharmlost und nicht als Verletzung des Gehirns verstanden
werde: Schon bald nach der Rückkehr aus der Klinik gingen die Kinder
ihren gewohnten Aktivitäten nach. Nach der Einschätzung der Forscher
erhöht dies jedoch das Risiko einer zweiten Gehirnverletzung und die
Gefahr steige an, dass sich die schulische Leistung der Kinder
verschlechtert. Wie falsch das Krankheitsbild eingeschätzt wird, zeigen auch
Informationen zur Gehirnerschütterung der Techniker Krankenkasse. Die
TK beschreibt, dass die Schwere eines Schädel-Hirn-Traumas vom Arzt mit
Hilfe einer Art Checkliste, der Glasgow-Coma-Scale, beurteilt. Mit ihr
lässt sich anhand der Reaktionen des Patienten auf äußere Reize sein
Bewusstseinszustand einschätzen. Auf eine gründliche körperliche
Untersuchung folgt eine intensive neurologische Untersuchung, um
Hinweise auf Funktionsstörungen des Nervensystems zu erhalten.
Weiterhin können bildgebende Verfahren wie die
Computertomographie  und unter Umständen auch Röntgenaufnahmen des
Kopfes zum Einsatz kommen. Im Einzelfall sind weitere Untersuchungen
erforderlich. Dazu gehören zum Beispiel die Messung der elektrischen
Hirnströme im EEG (Elektroenzephalogramm) oder spezielle Untersuchungen
durch einen Augen- oder Hals-Nasen-Ohren-Arzt.   In bestimmten Fällen sollten die Betroffenen über einen Zeitraum von 24
Stunden im Krankenhaus beobachtet werden, um mögliche Folgen wie zum
Beispiel eine Blutung im Gehirn zu erkennen und somit rechtzeitig
eingreifen zu können. Liegen keine ernsten Verletzungen vor, kann sich
die Behandlung einer Gehirnerschütterung auf die Linderung der Symptome
durch kurzzeitige Bettruhe und die Gabe von leichten Schmerzmitteln und
Medikamenten gegen die Übelkeit beschränken. Doch dann folgt eine Bewertung, die an den neuesten Erkenntnissen
völlig vorbei geht: “Die Bettruhe sollte jedoch nicht lange andauern
und ist häufig sogar überhaupt nicht nötig. Physikalische und
physiotherapeutische Therapien wie Krankengymnastik, Kälte- oder
Wärmebehandlung können die Behandlung ergänzen. Insgesamt sollte der
Patient nach einer gewissen Erholungszeit wieder rasch am normalen
Alltags- und Berufsleben teilnehmen.” Auch die weitere Beschreibung der TK ist wohl falsch: “In der Regel
heilt eine Gehirnerschütterung folgenlos aus. Erinnerungslücken bilden
sich häufig ganz oder teilweise innerhalb von wenigen Tagen zurück.
Manchmal bestehen über einige Tage Konzentrationsstörungen oder leichte
Wesensveränderungen, zum Beispiel depressive Verstimmungen.”   Immerhin räumt die TK ein: “In 10-20 Prozent der Fälle kann sich ein
sogenanntes chronisches posttraumatisches Syndrom entwickeln. Dies
äußert sich mit dumpfen, drückenden Kopfschmerzen, begleitet von
Symptomen wie Befindlichkeitsstörungen, depressiver Verstimmung und
subjektiv verminderter Leistungsfähigkeit.   In manchen Fällen sind die chronischen Folgeerscheinungen schwer zu
beeinflussen. Bei der Behandlung dieser andauernden Beschwerden kommen
Medikamente zum Einsatz, die normalerweise gegen Depressionen verordnet
werden. Die medikamentöse Behandlung sollte mit einer physikalischen
Therapie der Schulter-Nacken-Region (Krankengymnastik, Massage etc.)
kombiniert werden. Hilfreich ist oft auch das Erlernen und Anwenden von
Entspannungstechniken wie der Progressiven Muskelrelaxation nach
Jacobson.” WANC 22.10.10, Quelle: Carsten Konrad & al.: Long-term cognitive
and emotional consequences of mild traumatic brain injury, Psychol Med.
22/2010; Carol DeMatteo (McMaster University, Hamilton) et al.:
Pediatrics, Bd. 125, Nr. 2
 
 
 
 
 
 
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