Studien belegen, dass Migranten bei Scheidungen oder familiären Krisen psychisch verletzlicher sind als Einheimische (Foto: WHO)
> Kranke Psyche: Vom Einfluß der Kultur
Kulturelle Prägungen beeinflussen
psychische Erkrankungen. In Deutschland leben mehr als 16 Millionen
Menschen mit Migrationshintergrund. Studien belegen, dass Migranten bei
Scheidungen oder familiären Krisen psychisch verletzlicher  sind
als Einheimische. Sie suchen sich dennoch seltener medizinische Hilfe.
Hürden sind vor allem fehlende Sprachkenntnisse bei den Zugereisten und
fehlende Kulturkenntnisse bei den behandelnden Ärzten.
Türkische Migrantinnen leiden unter Eheproblemen erheblich mehr als
etwa westeuropäische Frauen. In einer Untersuchung gaben sie an, dass
ehelicher Streit und Trennung für sie die größte psychische Belastung
darstellt – noch vor Ereignissen wie dem Tod eines Angehörigen oder
einer schweren Krankheit. „Der enge Zusammenhang zwischen einer
gescheiterten partnerschaftlichen Beziehung und einer posttraumatischen
Belastungsstörung kann mit der sehr hohen Wertigkeit der Ehe in
bestimmten Kulturen und besonders im Kontext der Heiratsmigration
erklärt werden“, sagt Privatdozentin Dr. med. Yesim Erim vom
Universitätsklinikum Essen. Diesen Frauen sei deshalb nicht mit dem Rat geholfen, sich doch vom
Ehemann loszusagen und ein eigenes Leben anzufangen. „Das würde
verkennen, dass es für türkischstämmige Frauen kein Rollenmuster für
die Gestaltung des sozialen Lebens nach einer Trennung oder Scheidung
gibt“, so die Ärztin und Psychotherapeutin. Dies ändere sich jedoch zunehmend. „Auch suchen erstmals türkische
Männer nach psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten. Alleine zu
wohnen und alleinerziehend zu sein, bereiten ihnen Probleme“, schildert
Erim ihre Erfahrungen aus der interkulturellen Ambulanz in Essen. Bislang finden hierzulande Migranten in erster Linie deutsche und damit
deutschsprachige Psychotherapeuten vor. „Das ist insofern
problematisch, als zahlreiche psychische Belastungen nur vor dem
Hintergrund ihres kulturellen Kontextes verstehbar werden“, sagt Erim. Eine muttersprachliche Behandlung sei hilfreich, denn Patienten nehmen
eine Therapie dann eher in Anspruch. Der Therapeut könne zudem sicherer
beurteilen, ob eine psychische Störung vorliegt.

Nach Ansicht von
Wissenschaftlern bestimmen Normen und Erwartungen einer Kultur unseren
Gefühlshaushalt viel stärker als bislang angenommen: „Dieser Erkenntnis
müssen wir Rechnung tragen und die Psychotherapie interkulturell
ausrichten“, fordert die Expertin. Während beispielsweise eine Abtreibung in Russland nur selten ein
psychisches Trauma bei den Betroffenen auslöse, sei es in den USA ganz
anders: Dort geht eine Abtreibung sehr häufig mit einer schweren
seelischen Krise einher. „Die kulturellen Standards eines Landes
entscheiden mit darüber, was einen Menschen seelisch krank werden
lässt.“ Psychotherapie müsse in Zukunft mehr sein als eine Therapiemethode
westeuropäischer Prägung. „Nur wenn wir uns auf die Probleme und
Denkweise der Migrantinnen und Migranten einlassen“, so Erim, „wird es
uns gelingen, die Akzeptanz von Psychotherapie bei den Zugereisten zu
erhöhen.“ Dass dies nötig ist, belegen mehrere Gesundheitssurveys:
Migranten erkranken häufiger an Depressionen und anderen seelischen
Leiden als Einheimische. 21.03.2011/ Quelle: Deutscher Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
 
 
 
 
 
 
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