Psychisch Kranke: Sieben Jahre bis zur richtigen Therapie


Durchschnittlich sieben Jahre dauert die Odyssee eines psychisch oder psychosomatisch kranken Menschen durch das medizinische Versorgungssystem, bis sein Leiden richtig behandelt wird. Im Einzelfall werden Patienten sogar 20 Jahre lang falsch versorgt.

Patienten mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen nehmen das Gesundheitssystem intensiver in Anspruch als Patienten mit ausschließlich körperlichen Erkrankungen (z.B.: ambulante ärztliche Untersuchungen und Behandlungen, Arbeitsunfähigkeitszeiten, Aufenthalte im Akutkrankenhaus, Medikamentenkonsum). Aus einem medizinisch-technischen Blickwinkel heraus betrachtet gibt es immer wieder bei einer Reihe psychischer Erkrankungen erhebliche diagnostische Zweifel bei den Behandlern mit der Folge, dass diese Patienten länger im medizinischen Versorgungssystem bleiben als notwendig.

Die Unsicherheit des behandelnden Arztes führt nicht selten zu einer Intensivierung der diagnostischen Bemühungen. Verunsicherte Patienten fordern häufig weiterführende Untersuchungen, weil sie wissen wollen, welche Krankheit sie haben und wie sie zu behandeln ist. Gleichzeitig entwickeln sie jedoch ein Krankheitsverhalten, wie wir es eigentlich nur von schweren organischen Akuterkrankungen kennen: Schonen – sich zurückziehen – auf Klärung warten – Medikamente einnehmen mit entsprechend langen Krankheitszeiten.



Innerhalb von zwei Jahren vor der stationären Verhaltenstherapie waren die Patienten an 148 Tagen krank geschrieben und hatten 65 ambulante Arztkontakte absolviert. Einige Patienten waren sogar bis zu 18 Monaten krank geschrieben.

Solche Krankheitsverläufe (“Krankheitskarrieren”) erstrecken sich über lange Zeiträume (durchschnittlich 7 Jahre), bis qualifizierte psychosomatische und verhaltensmedizinische Behandlungen begonnen werden, bei denen körperliche Faktoren ebenso berücksichtigt werden wie psychische Belastungen, soziale Problemlagen und der Umgang der Patienten mit ihrer Erkrankung (Krankheitsverhalten).


Die gesellschaftlichen Kosten für diese Fehlversorgung betragen jährlich rund 5,3 Milliarden Euro. Davon entfallen rund 1,7 Milliarden auf das Gesundheitssystem und 3,6 Milliarden auf die Arbeitgeber. Mit den richtigen Behandlungskonzepten lassen sich diese Kosten um mehr als die Hälfte senken. Das belegt eine Studie der Allgemeinen Hospitalgesellschaft AG (AHG), der DAK und der Universität Mannheim.


In der Langzeituntersuchung wurde das Krankheitsverhalten von über 300 Patienten untersucht. Die Wissenschaftler prüften den Ressourcenverbrauch im Gesundheitssystem zwei Jahre vor und zwei Jahre nach einer stationären interdisziplinären Behandlung. Gegenüber rund 40.000 Euro durchschnittlicher Krankheitskosten für die traditionelle medizinische (Fehl-) Behandlung reduzierten sich die Kosten durch die Einbindung in ein interdisziplinäres medizinisches Verhaltenskonzept um über 54 Prozent auf 18.215 Euro.

Werden die Patienten rechtzeitig verhaltensmedizinisch behandelt, verlaufen sonst langwierige Krankheitskarrieren verkürzt und werden Chronifizierungen vermieden: Die Lebensqualität der Patienten verbessert sich deutlich. So sanken die Arbeitsunfähigkeitszeiten (minus 62%), die Dauer der Krankheitsfälle (minus 53%), Behandlungstage im Akutkrankenhaus (minus 45%), ambulante Arztkontakte (minus 25%) und der Medikamentenkonsum (minus 40%). Die Patientinnen und Patienten waren auch zwei Jahre nach der stationären Therapie noch gesundheitlich stabilisiert und hatten ihr Krankheitsverhalten wesentlich verändert.

Die Therapie in den drei Fachkliniken folgt dem Grundgedanken, den Patienten zum Manager seiner eigenen Erkrankung zu machen. Dazu arbeiten Ärzte und Therapeuten unterschiedlicher Fachrichtungen eng in einem permanenten Kooperations- und Abstimmungsprozess mit dem Patienten zusammen, um so das gemeinsame Therapieziel zu erreichen.


Die gesundheitsökonomischen Effekte, die das Umdenken in Richtung einer frühzeitigen verhaltensmedizinischen Behandlung haben könnte, verdeutlicht Projektleiter Prof. Dr. Manfred Zielke, Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim: "Bei einem durchschnittlichen Pflegesatz von 110 Euro pro Behandlungstag und einer mittleren Aufenthaltsdauer von 51,6 Tagen in der psychosomatischen Klinik kostet die stationäre Behandlung und Rehabilitation 5.676 Euro pro Patient. Werden alle Kostenfaktoren und die Verringerung der Krankheitskosten einbezogen, ergibt sich eine Kosten-Nutzen-Relation von 1:3,79. Das bedeutet, dass bei einer Investition von einem Euro in die stationäre psychosomatische Behandlung und Rehabilitation sich die Krankheitskosten und der Krankheitsfolgekosten um 3,79 Euro verringern."


Der AHG-Vorstandsvorsitzende Norbert Glahn. "Fakt ist: Nur durch die rechtzeitige bestmögliche Behandlung werden Patienten schneller gesund." Deshalb fordern die Initiatoren der Studie auch, den Blick mehr auf die Qualität des Behandlungsergebnisses zu richten.


WANC 20.07.04





Quelle:
http://www.medizinauskunft.de/home/artikel/index.php/index.php/20_07_psyche.php
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