Wirtschaftlich schlechte Zeiten: Hochkonjunktur für psychische Leiden

Psychiater der Freien Universität Berlin erkennt in Arbeitsplatzkonflikten den häufigsten Grund für die posttraumatische Verbitterungsstörung.

Hoch qualifiziert, dynamisch, kommunikativ, erfolgsorientiert und nahezu unbegrenzt belastbar - so sollten sie sein, die modernen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Informationsgesellschaft. Wer nicht oder nicht mehr in dieses Schema passt, hat es schwer. Vor allem ältere Berufstätige ab 50 Jahren, deren Leistungsfähigkeit langsam abnimmt, sind häufig besonderen psychischen Belastungen ausgesetzt.


In Zeiten wie diesen, in denen die Rezession den Rationalisierungsdruck und mit ihm den Stress erhöht, haben psychische Leiden Hochkonjunktur. Millionen Menschen reagieren auf gelegentlichen Ärger am Arbeitsplatz mit psychosomatischen Reaktionen wie Gastritis und Migräne, die in aller Regel mit einschlägigen Medikamenten und autogenem Training schnell kuriert werden können. Doch es gibt auch jene, die schwere Phobien und Depressionen entwickeln - und ihre Zahl wächst.


"Posttraumatic Embitterment Disorder" (PTED), zu Deutsch: "Posttraumatische Verbitterungsstörung" nennt Prof. Dr. Michael Linden das Krankheitsbild. Linden ist Psychiater an der Charité, Campus Benjamin Franklin (ehemals Universitätsklinikum Benjamin Franklin der Freien Universität Berlin). Mit dem Konzept der "Verbitterungsstörung" lässt sich erstmals plausibel eine Gruppe von Patienten mit spezifischen Verhaltensweisen von anderen abgrenzen, die alle ähnliche "Störungsmuster" zeigen. Bisher wurden diese Patienten als Depressive, Psychosomatiker oder Phobiker unspezifisch behandelt. Das besondere Merkmal der PTED-Patienten ist ihre tiefe Verbitterung aufgrund einer persönlichen Kränkung.


Mithilfe von standardisierten Interviews ging Prof. Linden in einer Studie unter anderem der Frage nach, welche Ereignisse die traumatische Störung auslösten. 38 Prozent der Patienten entwickelten die Symptome nach einer Kündigung, 24 Prozent erkrankten infolge von Konflikten am Arbeitsplatz, 14 Prozent nach dem Tod einer nahe stehenden Person und 14 Prozent nach familiären Konflikten. Die übrigen zehn Prozent der Fälle ließen sich auf andere Ereignisse zurückführen. Neben den Depressionen und Phobien sind Gefühle der Hilflosigkeit, des Selbstzweifels, Selbstmordgedanken, Aggressionen, Verzagtheit, Missmutigkeit, unspezifische körperliche Beschwerden, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen und Antriebsmangel zusätzliche Symptome dieses Krankheitsbildes.


Die emotionalen Reaktionsmuster sind im Gegensatz zu Depressiven weitgehend unbeeinträchtigt: Die Patienten können sogar lächeln, wenn sie Rachegedanken hegen - und die befallen sie häufig. Unablässig kreisen ihre Gedanken zwanghaft um die erlebte Kränkung. Alle Versuche der Betroffenen, zu vergessen, verschlimmern die Lage noch zusätzlich. Aus diesem Teufelskreis finden die Patienten aus eigener Kraft nur selten wieder heraus. "Verbitterung ist schlimmer als Depression", sagt deshalb Prof. Linden. Die Patienten stecken häufig in einem psychischen Korsett aus Normen und Werten, die ihnen in der familiären Erziehung während des Kindes- und Jugendalters vermittelt wurden. Strenge Grundsätze, wie zum Beispiel "Die Familie ist das Wichtigste" oder "Erst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen", engen ihr gesamtes Leben ein.


Wenn eine Ehe scheitert oder es schwerwiegende Probleme in der Berufssphäre gibt, bricht für viele eine Welt zusammen. Von einem auf den anderen Tag ändern die Betroffenen ihr bisher so diszipliniertes Verhalten. Aus Angst vor der vermeintlichen Schmach meiden sie Orte, an denen sie Menschen begegnen könnten, die ihr Schicksal kennen. "Menschen mit dieser psychischen Disposition können Generaldirektoren werden, wenn die berufliche Karriere nicht unterbrochen wird", weiß Prof. Linden und warnt damit alle Erfolgreichen vor der trügerischen Selbstgewissheit, dass sie niemals in diese prekäre Lage geraten.


Diese Erkrankungen können zu dauerhafter Arbeitsunfähigkeit führen, wenn sie nicht frühzeitig diagnostiziert und angemessen therapiert werden. Besonders gefährdet sind vor allem Menschen, die ihr Selbstwertgefühl fast ausschließlich aus dem Beruf schöpfen. In manchen Fällen kann schon eine Degradierung oder eine nicht erfolgte Beförderung dazu führen, dass die Betroffenen Phobien entwickeln, die sie daran hindern, weiterhin zur Arbeit zu gehen. Die Verbitterten empfinden die Lebensereignisse als ungerecht. Wenn sie auf diese Kränkung angesprochen werden, reagieren sie mit emotionaler Erregung. Ein besonderes Spezifikum der "Verbitterungsstörung" ist, dass viele Betroffene nicht krankheitseinsichtig sind und deshalb psychiatrische Hilfe ablehnen. In diesem Punkt unterscheiden sich die Verbitterten deutlich von den Patienten mit "Posttraumatischen Belastungsstörungen", die nach schweren Unfällen oder Vergewaltigungen an ähnlichen Symptomen leiden.


PTED-Patienten sind von ihren Leiden nur schwer zu befreien, weil viele durch ihre familiäre Prägung und das traumatische Ereignis psychisch blockiert sind. Prof. Linden bemüht sich, diese Blockaden mit den Methoden der modernen Weisheitspsychologie aufzubrechen. Weise ist im wissenschaftlichen Sinne derjenige, der Handlungen anderer Personen nachvollziehen und sich in sie emotional hineinversetzen kann, Perspektiven wechselt und auch mit unfertigen Lösungen leben kann. Der Gekündigte erkennt und akzeptiert so im Rollenspiel eventuell, weshalb sein Chef ihn entlassen hat und gelangt quasi nebenbei zu der Erkenntnis, dass der Verlust des belastenden Jobs auch ein Gewinn an Lebensqualität und die Chance für einen Neuanfang sein kann.


WANC 16.10.03





Quelle:
http://www.medizinauskunft.de/home/artikel/index.php/index.php/16_10_trauma.php
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