Entzündungen - wie hier in einem Teil des Dickdarms - sind offenbar ein wichtiger Bestandteil der Immunabwehr des Darms. (Bild: N. Waldschmitt / TUM)
Entzündungen - wie hier in einem Teil des Dickdarms - sind offenbar ein wichtiger Bestandteil der Immunabwehr des Darms. (Bild: N. Waldschmitt / TUM)
> Was hat eigentlich unser Gehirn mit dem Darm zu tun? Überraschung: Viel.

Wie eng die Beziehung zwischen unserem Gehirn und unserem Darm ist, kann jeder feststellen, der einmal nervös, gestresst, stark emotionalisiert oder verstimmt gewesen ist. Meist reagiert der Darm darauf mit seiner eigenen Verstimmung. Tatsächlich funktioniert das Ganze auch andersherum. Wissenschaftler sagen, dass das Wohlergehen des Darms ganz ursächlich für unsere Gemütslage mitverantwortlich ist. Sie vermuten sogar, dass der Informationsaustausch vor allem vom Darm zum Hirn läuft. 90% der Informationen sollen von unten nach oben wandern. Neue Erkenntnisse liefern jetzt immer mehr Hinweise dafür, dass das Mikrobiom im Darm neurologische Krankheiten auslösen und Gehirnprozesse regulieren kann. 


Manche sprechen vom Darm als unserem zweiten Gehirn. Wissenschaftler der TU München suchen z.B. nach Zusammenhängen zwischen der Darmflora und verschiedenen Krankheiten sowie der Beziehung zwischen den beiden Nervensystemen von Gehirn und Darm. Sie sprechen vom „Gehirn im Darm“. Das liegt sicher nicht nur daran, dass der Magen-Darm-Trakt des Menschen aus rund 200 Millionen Nervenzellen besteht. Das sind etwa so viele Zellen wie das Gehirn eines Haustieres besitzt. 


Andere nennen es die „Darm-Hirn-Achse“, die so bedeutend sei. Dr. Patricia Lepage vom Institut National de la Recherche Agronomique in Jouy-en-Josas (Frankreich) meint genüngend Hinweise dafür zu haben, dass der Auslöser für einige neurologische Erkrankungen im Verdauungsorgan sitzen könnte. Auf dem 2. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in Kopenhagen betonte sie: „Das Darm-Mikrobiom kann das zentrale Nervensystem, die Entwicklung von Nervenzellen und das Immunsystem beeinflussen. Ein besseres Verständnis für seine Wirkung könnte unsere Therapiemöglichkeiten revolutionieren.“


Dazu muss man folgendes wissen: Das Darm-Mikrobiom ist die Gesamtheit der menschlichen Darmflora mit all ihren Bakterien, Archaeen, Viren und Pilzen. Dieses System scheint auch für Prozesse außerhalb des Verdauungstrakts verantwortlich zu sein. Mikroorganismen im Darm sind anscheinend sogar in der Lage, das Verhalten zu beeinflussen. Lepage erklärt das: „Darm-Mikroben können nachweislich Neuromediatoren produzieren, die auf das Gehirn wirken. Keimfreie Mäuse zeigten sich beispielsweise weniger ängstlich als Artgenossen, deren Darm mit der natürlichen Flora besiedelt war. Allerdings gibt es bislang nur sehr spärliche Daten dazu, wie dieser Vorgang im menschlichen Gehirn abläuft.“


Erwiesen ist inzwischen, dass Darm und Gehirn über mehrere Kommunikationswege miteinander Informationen austauschen: Über den Vagus-Nerv, das Immunsystem, über das Nervensystem des Darms sowie über mikrobielle Stoffwechselvorgänge. Darmbakterien bauen beispielsweise Kohlehydrate in kurzkettige Fettsäuren um, etwa in Buttersäure. Diese festigt die Verbindungen zwischen den Zellen und verstärkt somit die Blut-Hirn-Schranke, die eine zelluläre Mauer darstellt, die das Gehirn vor Infektionen und Entzündungen schützt


Der Neurowissenschafter Prof. John F. Cryan (APC Microbiome Institute, University College Cork, Irland) zweifelt nicht daran, dass das Darm-Mikrobiom fundamentale Gehirnprozesse reguliert und auch in die Entstehung neurologischer Krankheiten eingreift. Denn vom Mikrobiom seien die Bildung von Nervenzellen des Hippocampus im Erwachsenenalter und die Aktivierung der Mikroglia, also der immunzellähnlichen Zellen in Gehirn und Rückenmark, abhängig. Auch bei der sogenannten Myelinisierung - Prozeß zur Ausreifung der vollen Funktionstüchtigkeit von Nervenzellen - hat das Mikrobiom seine Hände im Spiel. 


Wahrscheinlich ist der Darm auch für das Entstehen von Autoimmunerkrankungen mitverantwortlich. Beispielsweise bei Multiple Sklerose (MS) - eine Autoimmunerkrankung, die aus einer Verbindung von genetischen und umweltbedingten Faktoren entsteht. Dr. Gurumoorthy Krishnamoorthy vom Max-Plank-Institut für Neurobiologie in Martinsried meint: „Offenbar sind es aber nicht krankmachende, sondern für die Verdauung notwendige, nützliche Bakterien, die Multiple Sklerose auslösen können."


Bei Laborunterschungen mit genetisch veränderten Mäusen zeigte sich, dass Tiere mit normal ausgeprägter Darmflora ohne äußere Einflüsse eine Entzündung im Gehirn entwickelten. Hingegen blieben keimfreie Mäuse gesund. Die im Labor beobachtenten Abläufe lassen Krishnamoorthy vermuten, dass nicht Störungen im Nervensystem, sondern eine Veränderung des Immunsystems zur MS-Erkrankung führt. Forscher nehmen an, dass auch die Darmflora des Menschen eine Überreaktion des Immunsystems gegen Nervenzellen hervorrufen kann, wenn eine entsprechende genetische Veranlagung dazu vorliegt. Was allerdings ganz genau zu diesem Angriff führt, ist noch unklar. 


Erklärung: Das Darm-Mikrobiom (Quelle: EAN)
Das Mikrobiom besteht aus bis zu 1.000 verschiedenen Bakterienarten und hat mit etwa 100 Billionen Zellen zehnmal so viele Zellen und 150mal so viele Gene wie der Mensch. Es entwickelt sich mit seinem menschlichen „Wirt“ in einem symbiotischen Verhältnis. Die Entwicklung des fein abgestimmten Ökosystems Darm-Mikrobiom ist von einer Reihe von Faktoren abhängig: Ob und welche Mikroorganismen bei der Geburt aus dem Geburtskanal der Mutter aufgenommen werden; ob man Antibiotika ausgesetzt ist; welche Nahrung man zu sich nimmt; Infektionen; Stress und die genetische Veranlagung. Ältere Personen mit schlechtem Gesundheitszustand haben häufig auch eine geringere Vielfalt an Mikroorganismen in ihrem Mikrobiom oder entzündungsfördernde Erscheinungsformen.


01.06.2016/ Quelle: European Academy of Neurology

 
 
 
 
 
 
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